Wofür zeigt Julia Holter leidenschaftliche Begeisterung? Für Abwege. Für Abwege, auf die sie uns führt. Mit ihrem ersten Album, Tragedy, versetzte sie uns in himmlische Gegenden mit wahrhaft unendlichen Horizonten. Ekstasis mit seinem erhabenen Opener (Marienbad) war ein Versuch, Kompositionen, die nach Neuem suchten, wieder eine gewisse logische Struktur zu verleihen, und dieses Ziel hat sie mit dem im Jahre 2013 veröffentlichten Loud City Song durchaus erreicht, denn es ist nach wie vor das ausgewogenste, aber auch das kürzeste aller ihrer Alben. Fünf Jahre später will sie nicht mehr bezwingen, sondern genießen. Das recht seltsame Album Aviary zeigt – hemmungslos – absolut alle entscheidenden Einflüsse, die für Julia Holters Kreativität eine Rolle spielen, das beginnt mit der Polyphonie in der Renaissance und reicht bis zu Minimalismus und klassischer und moderner Orchestrierung. Die Struktur der Titel scheint nun eher vom Wind abhängig zu sein, wie ästhetisch anspruchsvolle Wolken in einem impressionistischen Bild, mit erhöhten, wahrhaftig ausgefallenen Kontrasten, die sie sich bis dahin noch nie ausgemalt hatte. Chaitius beginnt wie ein Elisabethanisches In Nomine mit diversen, plötzlich überlagerten, modernen Neuorchestrierungen. Ist das wirklich Popmusik? Plötzlich versetzt uns Julia Holters gehauchte Stimme in eine Art nach wie vor eher städtisches, ziemlich kaputtes Kabarett zurück – mit glühenden Instrumenten, verrückt gewordenen Keyboards und weiterhin dieser sich dahinschleichenden, immer wiederkehrenden Polyphonie! Wo sind wir eigentlich? Der darauffolgende Titel wird nicht auf Ihre Frage antworten, denn mit Voce Simul tauchen wir jetzt plötzlich in Habanera-Träume. Mit hispanisierenden Klängen, einer Instrumentierung, die wie diffuses Licht einsetzt, und ihrer Stimme selbst, die erfüllt ist von sinnlichem Verlangen, und das trotz einer Spieluhr (wahrscheinlich dieselbe wie in Marienbad), die das Ambiente kurzzeitig aus dem Gleichgewicht zu bringen scheint. Everyday Is an Emergency, der folgende Titel, hört sich an wie ein Hup- und Pfeifkonzert, bevor dann die Frau erneut als Befreierin auf den Plan tritt, um eine Botschaft von Liebe und freudestrahlendem Frieden zu verkünden. Überwältigend! Das ist aber erst der Anfang der Reise… Wie könnte man auch diese neue Version des aus den Kollektengebeten hervorgegangenen Sprechgesangs vergessen! Diese seltsame, ätherische, großzügige Welt ist Julia Holter vielleicht endlich aus dem Herzen gesprochen, ohne dass dabei ihre belebende Intelligenz zu kurz kommt. Das darf man keinesfalls verpassen. © Pierre-Yves Lascar/Qobuz