Hätte man ihm das vor zehn Jahren gesagt, hätte Jack gelacht. Aber das Lachen wäre ihm wohl im Halse stecken geblieben. Der lonesome Boy, der mit Blues groß geworden ist und auf analoge Geräte beschränkt war, bringt nun ein Album heraus, für das er erste Versuche mit Synthesizern gemacht hat. Im Laufe seiner Kooperationen in den vergangenen Jahren konnte man es schon irgendwie ahnen, trotzdem bleibt dieser plötzliche Weichenwechsel in seinem erfolgreichen Alleingang etwas Erstaunliches. Der inzwischen 42 Jahre alte White artikuliert in seinem Blues nicht nur Riffs, sondern auch seinen ersten Genre-übergreifenden Wortschatz. Und diese am Jahresanfang 2018 willkommene Sprache bringt die stichhaltigsten Argumente vor. Überraschende Rockeinlagen (Respect Commander), turbulente Jam-Sessions (Ice Station Zebra), Congas und Percussioninstrumente für afrokubanische Rhythmen mit eingestreuten digitalen Klangexperimenten (Over and Over and Over, Everything’s You’ve ever Learned), teilweise von der Rockorgel untermalte Gospeleinlagen mit den McCrary Sisters aus Nashville (Connected by Love), am Klavier vorgetragene, herzerweichende Country Music (What’s done is done), ein kammermusikalisches Zwischenspiel von C.W. Stoneking (Abulia and Akrusia), Vocoder für Miniatur-Funk (Get In The Mind Shaft), Worte, die Al Capone in Alcatraz geschrieben hatte und die von einem jazzigen Arrangement von Dvořáks Humoresque begleitet werden, nichts wird ausgelassen.
Bei diesem Sprung ins kalte Wasser hat das ehemalige The White Stripes-Mitglied versucht, Abstand zu nehmen. Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Alle Risiken einzugehen. Dafür hat er sich in der ersten Zeit monatelang außerhalb der sicheren Mauern des Third Man Records, allein in ein in Nashville gemietetes Studio zurückgezogen, zuerst ohne Instrument komponiert, die Tasten der Synthesizer erkundet und zugleich Aufnahmen gemacht. Dann eilte er nach New-York und Los Angeles, und begab sich mit Carla Azar von Autolux, Louis Cato, Justin Poree und Bobby Allende ins Studio, also mit den Stars der Hip-Hop-Szene, die für Kendrick Lamar spielen. Mit diesen Musikern hatte er zuvor noch nie zusammengearbeitet. Jack: „Bestimmte Stücke können die ganze Seite in Anspruch nehmen, wie bei Miles Davis etwa, als er in seiner Funkadelic-Phase war. Und sobald ein anderer Musiker hinzukam, wurde alles, das ganze musikalische Ambiente anders.“ Der immer auf Neues erpichte White will die brutale, noch formlose Klangmaterie, die im Schweiße seines Angesichts entsteht, pur, schmutzig und noch brodelnd einfangen, um dann in L.A. die Aufnahmen wohlüberlegt zu überarbeiten. Das Ergebnis ist Boarding House Reach in Form von dreizehn Tracks, Whites zügellosestes, ausgefallenstes und lebhaftestes Album. Ausgezeichnet! © Charlotte Saintoin/Qobuz