Nehmen Sie eine Prise Michael Jackson, ein Quentchen Laurie Anderson, bestreuen Sie das Ganze mit Judith Butler, vermengen Sie alles und so erhalten Sie Chris – den Namen des zweiten Albums, aber auch das männliche Alter Ego von Christine and the Queens. Dadurch, dass sie einen Teil ihres ursprünglichen Namens weglässt und diese persona verkörpert, die wie ein athletisch gestählter, finsterer Knabe aussieht, befreit sie sich von diesem erdrückenden, starren Gender-Schema, und bringt so den 23 (!) Songs dieses Doppelalbums (jedes Album ist der Spiegel des jeweils anderen) eine gewisse Stärke, wenn nicht sogar Härte. Chris inspirierte sich an der Electronica der 1980er Jahre und am Gangsta-Funk der 1990er Jahre und somit hat ihre Musik nicht nur den Vorteil, das intellektuelle Konzept zu untermauern, das der Herangehensweise einer Héloïse Létissier (Chris/Christine mit richtigem Namen) zugrunde liegt, sondern sie ist beschwingt und geht eben auch ganz einfach ins Ohr. Egal, ob die Zuhörer nun Stöckelschuhe oder Cowboy-Stiefel tragen, ihre Füße werden den effizienten Beats des Doesn’t Matter oder 5 Dollars einfach nicht widerstehen können. Sie kann aber auch weniger streng sein und in Songs wie Make Some Sense oder Les Yeux mouillés das Tempo ihres sonderbaren Orkans etwas verlangsamen.
Und da gerade vom Körper die Rede ist – er nistet sich in die meisten (auf Englisch und Französisch geschriebenen) Texte, insbesondere in Girlfriend und Damn (What Must a Woman Do), wo oft Speichel und Schweiß zur Sprache kommen. Denn Chris' wechselhafte Identität spielt sich natürlich auf körperlicher Ebene ab, genauso wie ihr Schaffensprozess als Tänzerin. Gender und Kunst stehen bei ihr in sehr engem Zusammenhang. Dadurch, dass sie mit der Idee des Doubles und im Hinblick auf Aufführungsmöglichkeiten arbeitet, möchte Chris die soziale Konstruktion rund um die sexuelle Identität deutlich machen, und sie tut dies mal auf ernsthafte, mal auf humorvolle Weise. „I'm gone in a flick, but back in a second“ („Ich bin im Handumdrehen weg, bin aber gleich wieder zurück“) singt sie übrigens schelmisch auf der Single Girlfriend. Vielleicht ist das im Grunde genommen ja nichts weiter als ein unterhaltsamer Zaubertrick? © Nicolas Magenham/Qobuz