Dies ist keine Kritik. Dies ist eine Liebeserklärung. Hunderttausend Rosen für "Night Thoughts".
"Bloodsports" war zum Glück lediglich eine Fingerübung um wieder warm zu werden. Erst jetzt nutzen Suede die künstlerische Freiheit, die ihnen ihr Status als im Grunde ausrangierte Britpop-Stars, um die sich bei der Plattenfirma niemand mehr schert, komplett aus. Die experimentelle Aufgeschlossenheit von "Dog Man Star" erreichen sie nicht, dafür zeigen sie sich über die gesamte Spieldauer deutlich fokussierter. Zu dem von Ed Buller produzierten Werk drehte Roger Sargent einen Film.
"Wir wollten ein Album aufnehmen, das man nicht zerstückeln kann. Es sollte von vorne bis hinten stimmig sein", erklärt Bassist Mat Osman im Interview mit MusikBlog. Etwas, dass er im Grunde nicht mal erwähnen müsste. Denn von der ersten Note in "When You Are Young", über das leidenschaftliche "I Don't Know How To Reach You", bis hin zur letzten Note in "The Fur & The Feathers" zieht die Platte durch ihre pure Energie die Aufmerksamkeit auf sich. Suede gelingt es, die Spannung über die gesamte Laufzeit aufrecht zu erhalten.
Obwohl bei den Arbeiten von Anfang an das Gesamtwerk im Vordergrund stand und die einzelnen Tracks ineinander fließen, finden sich auf "Night Toughts" einige der besten Songs, die die Band in ihrer Karriere geschrieben hat und schlichtweg kein einziger schlechter. Bei einem solchen Unterfangen keine Alltäglichkeit.
"How long will it take to break the plans that I never make?" singt Brett Anderson in "No Tomorrow". Die Zeiten, in denen er über Junkies und Orwellsche Gesellschaften sang, gehören der Vergangenheit an. Die düstere Bedrohung und Melancholie seiner Dramen zieht er nun aus der ernüchternden Belanglosigkeit unseres unglamourösen Lebens. In den Gedanken der Nacht lungern Schmerz, Einsamkeit, Depression, Verrat und der Tod.
Gitarrist Richard Oakes, den Suede einst hastig als Butler-Duplikat einstellten und der diesen Stempel nie ablegen konnte, zeigt sich in der Form seines Lebens. Andersons Stimme hat mit 48 Jahren nichts von ihrer Theatralik eingebüßt. Einzig Codlings Keyboards überzuckern die bereits mit einem pompösen Orchester ausgestatteten Arrangements in wenigen Momenten.
Der Opener "When You Are Young", der sich mit seinem späteren Echo "When You Were Young" "Night Thoughts" nahezu umschlingt, fährt das volle Orchester auf, lässt es mit der Band verschmelzen. Dazu Andersons Text über den verlorenen Idealismus der Jugend und die Unmöglichkeit einer Rückkehr. Ein schwelgerischer Start. Nostalgisch und verführerisch.
Der Wechsel zum dämmrigen "Outsiders", einer Romanze zweier Außenseiter, "thrown like two winter roses into a broken vase" verläuft abrupt. Die ungewöhnlich geradlinigen Strophen bauen eine bedrohliche Atmosphäre auf, bevor im Refrain der klassische Suede-Pathos einsetzt. Das eingängige "Like Kids", das wie ein Leuchtturm aus der zunehmend düstereren zweiten Hälfte heraus sticht, führt bereits mit Gilberts Schlagzeugeinstieg auf das 1996 Album "Coming Up" zurück. Ein wehmütig verklärter Britpop-Song mit Kinderchor. Hinter dessen naiver Fassade verbirgt sich jedoch Verlustangst und der blanke Horror, sein Kind auf Grund der eigenen Unzulänglichkeit zu überleben.
Ab diesem Punkt graut kein Morgen, die Nacht wird nur dunkler und dunkler. Nur Gitarre, Keyboard und kreuzunglücklicher Gesang bilden das Grundgerüst für "I Can't Give Her What She Wants". Mehr Pause als Song, liegt der Track zerbrochen am Boden und suhlt sich in seiner Pein. Das interessanteste Stück, "Learning To Be", experimentiert mit Ambient-Flächen und Klang-Kollagen. Verstörendes Flüstern, spielende Kinder, entrückter Frauengesang und tiefe Einschläge unter denen das Lied letztendlich zerbricht. "Falling like leaves", singt Anderson.
Erst mit "Night Thoughts" ergeben Suede wieder Sinn, funktionieren nach ihrer Geschichte voller Hürden und Stolperfallen wieder als Band. Zum ersten Mal, seitdem ihnen 1994 mit dem Ausstieg des Gitarristen Bernard Butler das Herz heraus gerissen wurde. Suede gelingt überraschend das große Drama, das man den Briten längst nicht mehr zugetraut hätte. Ein Album, das in einer Liga mit dem Debüt und ihrem Meilenstein "Dog Man Star" spielt.
© Laut
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