Im Jahr 2018 ist eine Big Band nicht gerade die Art von Formation, die von den Medien stark thematisiert wird. Und kaum jemand hat die Absicht, sich auf einen Weg zu begeben, den Künstler schon im vorigen Jahrhundert eingeschlagen haben, auch wenn es sich damals um Giganten handelte, welche die Jazzsprache richtiggehend revolutioniert haben. Der Trompeter Michael Leonhart aber wagt es, Gil Evans, Mel Lewis/Thad Jones, Duke Ellington, Quincy Jones und Carla Bley Konkurrenz zu machen. Mit seinem Michael Leonhart Orchestra (MLO) leistet er sogar einen sehr persönlichen Beitrag. „Als ich das MLO gründete, dachte ich an mehrere, unterschiedliche Solisten, egal ob sie normalerweise in großen Bands spielten oder nicht. Für sie sollte es aber selbstverständlich sein, sowohl von Mingus und Ellington als auch von Wu-Tang oder Fela Neufassungen zu machen!“ Daher haben wir hier Mitglieder des Village Vanguard Orchestras, des Orchesters von Maria Schneider, aber auch von den recht funkigen Dap-Kings, der Menahan Street Band und sogar den Meistern des Afrobeat Revivals, nämlich Antibalas! Eine verrückte Besetzung für ein verrücktes Repertoire, in dem es etwas von den Beastie Boys, Frank Zappa und Bernard Herrmann gibt! Leonhart erweitert die klassische Besetzung einer Jazz-Big-Band mit dafür eher ungewöhnlichen Instrumenten wie Fagott, Akkordeon, Harmonika und Streichern.
Letztendlich entspricht diese nach allen Seiten hin offene musikalische Vision durchaus einer Person wie Leonhart, der zuvor schon mit recht verschiedenen Leuten zusammengearbeitet hat wie etwa Steely Dan, Mark Ronson, Bruno Mars, A Tribe Called Quest, Arto Linsday, Bill Frisell, Bill Withers, Bobby McFerrin, Bonnie Raitt, Brian Eno, Busta Rhymes, Caetano Veloso, DJ Spooky, David Byrne, James Brown, John Barry, Joshua Redman, Lenny Kravitz, Levon Helm, Michael McDonald, Mos Def, Natalie Merchant, Raekwon von Wu-Tang Clan, Slash von Guns N’Roses, Steven Tyler von Aerosmith, Todd Rundgren, Wynton Marsalis und Yoko Ono… Für dieses im Juni 2018 erschienene Album präsentiert Michael Leonhart eine herrliche Suite mit dem Titel The Painted Lady Suite. Ein Werk in zwei Sätzen, die soundmäßig eine Parallele zwischen zwei Migrationswellen ziehen. Die eine davon verläuft von Nordamerika nach Kanada. Die andere bewegt sich vom Polarkreis in Richtung Europa und dann Nordafrika. Seine Musik bringt damit die Klimaveränderung und die Begleitumstände dieser weitläufigen Völkerwanderungen zur Sprache. Das MLO wirft nicht nur einen Blick auf die Ahnengalerie des Jazz, sondern auch auf Ennio Morricone, Quincy Jones, David Axelrod, Henry Mancini und Nino Rota. Zuerst fühlt man sich ein bisschen vor den Kopf gestoßen, aber wie herrlich diese Suite ist, beweisen vor allem aufgrund die von den Saxofonisten Donny McCaslin und Sam Sadigursky, dem Gitarristen Nels Cline, dem Posaunisten Ray Mason und dem Trompeter Dave Guy ineinander verwobenen Klangstrukturen. Ein tolles Kaleidoskop, das durch drei Themen ergänzt wird, die Leonhart zuvor schon eigens für das Orchester komponiert hat. © Marc Zisman/Qobuz