In erster Linie sollten wir Agnes Obel Eins zugestehen: die gute Idee, ihr viertes Opus lieber unter dem Titel Myopia (Kurzsichtigkeit) anstatt Hypakusis (Hörverlust) veröffentlicht zu haben – auch wenn die nach Berlin ausgewanderte Dänin gelegentlich versucht, die optische Fehlsichtigkeit mit gewissen mehr oder weniger dumpfen Klangvarianten musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Das auffälligste Beispiel ist das Stück Roscian, ein Klavier-Instrumental im Dreivierteltakt, das nach Beerdigung klingt. Myopia verweist auf weniger belanglose Art auf die abenteuerliche Fortbewegungsart, um eine zuerst verschwommen erscheinende, ferne Wirklichkeit deutlicher wahrzunehmen. Übrigens heißt einer der Tracks nicht zufällig Camera’s Rolling. Metaphorisch gesehen bringt Obel mit dieser Scharfeinstellung auf natürliche Weise die Idee zur Geltung, sich der Welt gegenüber offen zu zeigen, anstatt sich mit einer eng begrenzten Umgebung zufriedenzugeben.
Ihrer Meinung nach ist „Experimentieren“ das wichtigste Werkzeug, um zu dieser offenen Haltung zu gelangen. Myopia ähnelt einem extravaganten Labor, wo die Stimme der Sängerin das wichtigste Untersuchungsobjekt ist, das von einem Klavier und mehr oder weniger melancholischen Synthesizern begleitet wird. Bestimmte Leute überlassen ihren Körper der Wissenschaft, Agnes Obel hingegen verschreibt ihre Stimme der Musik, wobei sie ein Maximum an Effekten testet. Genauso wie die Destillierkolben eines gelehrten Spinners kreuzen und verschlingen sich ihre melodischen Linien auf gewagte Art und Weise ineinander, bleiben dabei aber immer harmonisch. Anhand von Kompositionen, die irgendwo zwischen Kate Bush und Scott Walker einzuordnen sind, arbeitet sie mit ihrem Organ in vielfacher Manier. Ganz alleine hat Agnes Obel diese Forschungen in ihrem Berliner Studio angestellt, auch wenn sich auf dem Album dann immer wieder ein paar Streicher dazugesellen. Egal, ob ihre Stücke nun angsteinflößend sind (Drosera mit seinen stetig wiederholten Akkorden wie in einem Film von Dario Argento) oder unbeschwert (Won’t You Call Me mit gedämpftem Chorgesang), ob sie quälende Schlaflosigkeit (Broken Sleep) oder Todesängste ansprechen (Island of Doom), auffällig ist in erster Linie, dass sie überaus elegant wirken. Agnes Obel hält uns mit Myopia ein funkelndes Fernrohr vor Augen, damit wir ganz deutlich sehen können, wie schön das ist, was diese Frau existieren lässt: Musik. © Nicolas Magenham/Qobuz